Die Figurenleiter

Sieben thematische Entwicklungsstufen in Filmklassikern

Dramaturgische Storytelling-Methode entwickelt von Marcus Patrick Rehberg, VeDRA.

Vom Finden

Beschäftigt man sich in der dramaturgischen Recherche mit der Entwicklung von Figuren, Systemen, Gesellschaften oder ganzen Welten, kommt man früher oder später auch zum biblischen Bild der „Jakobsleiter“. Wie mannigfaltig ihre (Bewusstseins-)Stufen definiert werden (ähnlich der Stufen der mythischen Einweihungstempel), kann man in verschiedenen Schriften nachlesen: Neben komplexen Systemen wie dem kabbalistischen Lebensbaum findet man auch eine siebenstufige Struktur, die die Einzuweihenden allein oder gemeinsam durchlaufen. Wenn es im alten Mysterienwissen der Menschheit eine solche Stufenleiter gibt, liegt für einen Dramaturgen die Frage nahe, ob dies auch auf das Erzählen von Geschichten zutrifft. Zumindest bei Filmklassikern, die immerhin über einige Jahrzehnte und Generationen hinweg Bestand hatten, ließe sich eine solche „göttliche Dramaturgie“ vermuten.

Vom Suchen

Aufgrund dieser Annahme untersuchte ich daher Klassiker der Filmgeschichte auf eine bestimmte gemeinsame Struktur hin, die ich – angelehnt an die biblische Jakobsleiter – „Figurenleiter“ nenne, und wurde fündig:

In folgenden sieben Entwicklungsstadien oder Dimensionen durchlaufen die Figur sowie das Figurenensemble bzw. -orchester zahlreicher Filmklassiker bestimmte Lernprozesse bzw. tragen in diesen Phasen entsprechende Konflikte aus: Ordnung, Freier Wille, Ernsthaftigkeit, Geduld, Barmherzigkeit, Weisheit, Liebe. Zu jeder Stufe gehören natürlich auch die jeweiligen Polaritäten von „Ordnung vs. Chaos“ bis zu „Liebe vs. Hass“.

Musterplan

Bevor ich zu drei konkreten Beispielanalysen komme, erkläre ich das gemeinsame, allgemeine Muster, dass sich bei Dutzenden von Filmklassikern zeigte: Man findet die Stufen Ordnung und Freier Wille meistens im ersten Akt. Zunächst herrscht Ordnung oder eben Chaos. Oder beides gleichzeitig. Oder Chaos bricht in die Ordnung ein. Und dadurch wird der freie Wille der Hauptfigur bezüglich ihrer Reaktionen und ihrer Entscheidungen herausgefordert und mit dem freien Willen des Antagonisten konfrontiert.

Ernsthaftigkeit und Geduld werden im zweiten Akt bedeutsam. Denn spätestens ab dem ersten Wendepunkt bzw. dem „Point of no return“ wird es ernst: Denn die Figuren erleben die Konsequenzen der Ausübung ihres freien Willens und es wächst dadurch eine Ernsthaftigkeit in ihnen. Ab dem Midpoint werden sie dann oft auf die Geduldsprobe gestellt. Die Reise scheint kein Ende nehmen zu wollen. Die Ausdauer und das Durchhaltevermögen werden dann in der Katastrophe ultimativ erprobt: Scheitern und wieder aufstehen. Aufgeben oder weitermachen. Dabei wird bereits Erfahrung in Sachen Barmherzigkeit gesammelt. Die Hauptfigur gewährt oder erfährt Barmherzigkeit, Gnade vor Recht, Erbarmen oder ähnliches. Gegebenenfalls kann sie die selbst empfangene Gnade auch anderen zuteil werden lassen. Dies geschieht meist während der Katastrophe und im Anfang des dritten Akts. Im dritten Akt mündet dies dann in eine tiefere Erkenntnis oder eben in Wissen und Weisheit und diese führt zu einer anderen Weltsicht, einer Umkehr im Handeln. Meist führt dies in der Folge zu einer Form von wahrhaftigerer oder gelebter Liebe und/oder der Auseinandersetzung mit dem entgegengesetzten Gefühl des Hasses. Wobei diese Liebe (und der Hass als ihr Gegenpol) viele unterschiedliche Dimensionen und Facetten haben kann, wie z.B. in RIFIFI (F, 1955, R: Jules Dassin, oft „Vater aller Heist-Filme“ genannt), wo der Akt der Liebe darin besteht, dass nach dem Ausagieren des Hasses unter verfeindeten Kriminellen der tödlich verwundete (Anti-)Held das Kind seines getöteten Kollegen mit letzter Kraft zurück zur Mutter bringt. Betrachten wir die sieben Entwicklungsstufen nun anhand von drei frühen Filmklassikern:

Bunt ist alle Empirie

GOLDRAUSCH (USA, 1925) wurde von Charlie Chaplin als einem Meister seines Fachs inszeniert. – 1. Stufe Ordnung: Die Balance zwischen Ordnung und Chaos ist im Alaska der Goldrausch-Zeit ins Ungleichgewicht gekippt: Chaplins Figur des Tramp gerät durch ein Schneesturm-Chaos in eine Hütte mit einem gutmütigen Goldsucher und einem bösartigen Gesetzesbrecher. Dieser tötet auf der Suche nach etwas zu Essen zwei Gesetzesvertreter und überlässt gewissenlos (freier Wille) den Tramp und den Goldsucher ihrem Schicksal. – 2. Stufe Freier Wille: Der Tramp trifft in der sich täglich verschlimmernden Hungersnot die Willensentscheidung, seinen Schuh zu verspeisen und zelebriert dies genüsslich. Der freie Wille des gutmütigen Goldsuchers geht soweit, sich zu entscheiden, zum Kannibalen zu werden. Der Tramp ist mit den lebensgefährlichen Folgen des freien Willens des Goldsuchers konfrontiert. Nachdem sie jedoch einen Bären erlegt haben, entscheiden sie sich für verschiedene Lebenswege: Der Goldsucher will zu seiner Goldmine, der Tramp will zurück in die Stadt. – 3. Stufe Ernsthaftigkeit: In Bezug auf seine Entscheidung wird es für den gutmütigen Goldsucher unvermittelt Ernst, als er mit dem bösartigen Gesetzesbrecher um seine Goldmine kämpfen muss. Der Verbrecher erfährt die Konsequenzen seines freien Willens, als er zu Tode stürzt. Der Goldsucher verliert beim Kampf die Erinnerung daran, wo seine Goldmine liegt. – In der Goldsucherstadt verliebt der Tramp sich ernsthaft in eine Bardame, die ihn jedoch nicht ernstnimmt, und nur zum Schein seine Einladung zum Silvesterabendessen annimmt. – 4. Stufe Geduld: Der Tramp wartet am Silvesterabend vergeblich auf seine Verehrte, schläft ein und träumt davon, wie er die Bardame mit seinem „Brötchen-Gabel-Tanz“ unterhält. – 5. Stufe Barmherzigkeit: Als der gutmütige Goldsucher den Tramp bittet, ihm zu helfen, seine Goldmine wiederzufinden, hilft der Tramp ihm. Erneut sind sie einem gnadenlosen Schneesturm ausgeliefert und finden wiederum Zuflucht in derselben Hütte. Als diese an den Rand eines tiefen Abgrunds geweht wird, entbrennt ein unbarmherziger Überlebenskampf, in dem beide schließlich in gegenseitiger Hilfe dem Tod entrinnen. – 6. Stufe Weisheit: Die Goldmine macht aus dem Tramp und dem Goldsucher Millionäre. Als Männer von Welt reisen sie auf einem prächtigen Dampfer. Dort begegnet der Tramp, der für Fotoaufnahmen noch einmal seine alten Tramp-Kleider angezogen hat, zufällig der Bardame, die nichts von seinem Goldfund weiß. Der Tramp erkennt, dass sie ihn wirklich liebt, da sie ihn für einen blinden Passagier hält (Unwissenheit), ihn vor den Kontrolleuren verstecken will und sogar anbietet, für ihn die Reise zu zahlen. Und damit sind wir bereits auf der letzten Stufe angelangt – 7. Stufe Liebe: Im Tramp entflammt die zuvor enttäuschte, unerfüllte Liebe erneut und er offenbart sich nun seiner geliebten Bardame und hält um ihre Hand an.

M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (D, 1931) wurde von Fritz Lang als einer der ersten deutschen Tonfilme gedreht. – 1. Stufe Ordnung: Ein Serienmörder stürzt den Lebensalltag der Berliner Bevölkerung sichtlich ins Chaos, geprägt von Ängsten und gegenseitigen Verdächtigungen. Die Gesetzeshüter sind mit der Situation ziemlich überfordert. – 2. Stufe Freier Wille: Da die enorme Polizeiüberwachung das organisierte Verbrechen in den Kreis der Verdächtigen mit einschließt, beschließen die Verbrecherbosse freiwillig, die Polizei zu unterstützten, und auf ihre Weise nach dem Mörder zu suchen. Die Polizei stellt aufgrund eines Bekennerschreibens die Zurechnungsfähigkeit (den freien Willen) des Täters infrage und nimmt ehemalige Insassen der Psychiatrischen Anstalten ins Visier. – 3. Stufe Ernsthaftigkeit: Für den Täter wird es ernst, als sowohl die Verbrecherorganisationen als auch die Polizei ihm immer mehr auf die Spur kommen. – 4. Stufe Geduld: Obwohl die Verbrecher dem Kindesmörder dicht auf den Fersen sind, ist dieser wie vom Erdboden verschluckt. Aber sie lassen nicht locker und schnappen ihn schließlich vor der Polizei. – 5. Stufe Barmherzigkeit: Die Angehörigen des organisierten Verbrechens veranstalten eine Art geheimen Schauprozess, in dessen Verlauf der angeklagte Kindesmörder auf seine Weise um Erbarmen fleht. – 6. Stufe Weisheit: Der Verteidiger versucht, Verständnis für den Angeklagten zu wecken. Die Polizei erfährt schließlich vom Versammlungsort der Verbrecher und nimmt den Verdächtigen in ihre Obhut. – 7. Stufe Liebe: Eine Mutter, deren Kind ermordet wurde, bekennt, dass sie keinen Rachewunsch hegt, da die Bestrafung des Täters ihr Kind nicht wieder lebendig mache, und fordert, dass man solchen Taten besser vorbeugen sollte.

FAHRRADDIEBE (I, 1948) wurde von Vittorio de Sica nach einem Roman von Luigi Bartolini verfilmt. – 1. Stufe Ordnung: Der Familienvater Antonio versucht sich trotz bitterer Armut als Tagelöhner in die bestehenden Gesetze des Arbeitsmarktes einzufügen. Da er für seine Arbeit ein Fahrrad benötigt, verkaufen sie sogar ihre Bettwäsche dafür. – 2. Stufe Freier Wille: Ein Fahrraddieb folgt seinem egoistischen freien Willen, indem er Antonios Fahrrad stiehlt. Dadurch seiner Arbeitsgrundlage beraubt, entschließt sich Antonio, den Fahrraddieb auf eigene Faust zu suchen. – 3. Stufe Ernsthaftigkeit: Mit dem unerbittlichen Ernst seiner eigenen sowie der gesellschaftlichen Lage wird Antonio konfrontiert, als er feststellen muss, dass der Dieb ebenso arm ist wie er und dieser sogar von seinen Komplizen bzw. Nachbarn gedeckt wird, als Antonio die Polizei holt. – 4. Stufe Geduld: Antonio verliert die Geduld (Ausdauer, Hoffnung) und stiehlt kurzerhand selbst ein Fahrrad. – 5. Stufe Barmherzigkeit: Als er dabei erwischt wird, ist er auf die Gnade des Besitzers angewiesen, der aus Mitgefühl mit Antonio, der sich vor seinem kleinen Sohn als Dieb beschimpfen lassen muss, auf eine Anzeige verzichtet. – 6. Stufe Weisheit: Dass dies keine vorbildliche Lösung war, erkennt Antonio deutlich. Sein schlechtes Gewissen ist ihm anzusehen. – 7. Stufe Liebe: Größer als das erschreckende Wissen, dass sein Vater zum Dieb wurde, ist beim Sohn die bedingungslose Liebe zu seinem Vater. Als er sein Leiden sieht, reicht der kleine Junge dem Vater die Hand.

Variationen

Wir haben nun gesehen, dass eine amerikanische Komödie, ein deutscher Kriminalfilm und ein italienisches neorealistisches Sozialdrama eine ähnliche thematische oder qualitative Entwicklungsstruktur aufweisen. Die strukturellen Orientierungspunkte der klassischen Drehbuchlehren markieren dabei nicht notwendigerweise das Erreichen der nächsten Entwicklungsebene bzw. Stufe der Figurenleiter. Es ist natürlich nicht bei allen Filmen so, dass alle Sprossen der Figurenleiter einfach von Anfang bis Ende erklommen werden. Sogar in manchen Klassikern geht in der Story „nur“ um das Erklimmen der nächsten Sprosse. Konkret gesagt: Ein Actionfilm kann ausschließlich vom archaischen Kampf zwischen Ordnung und Chaos handeln. Da sich aber jede Stufe wiederum in dieselben 7 Unterstufen gliedern lässt, wird in einem Actionfilmklassiker das Figurenorchester diese 7 Stufen in besonderem Bezug auf den Aspekt der Ordnung durchlaufen. Das heißt, der Held und sein Antagonist tragen zwar einen Kampf auf der Stufe der Ordnung aus, der sich z.B. im dritten Akt dann aber um die Aspekte der Weisheit (vs. Unwissenheit/Ignoranz) und Liebe (vs. Hass/Wut) in Bezug auf die Hauptebene Ordnung vs. Chaos drehen kann, worauf der Aufstieg in die nächstliegende Stufe (freier Wille) folgt.

Fazit

Bei zahlreichen Filmklassikern bis 1960, darunter CASABLANCA und CITIZEN KANE, die oft auf Platz Eins diverser TOP100-Filmklassiker-Listen zu finden sind, aber auch bei vielen modernen Klassikern (ab 1960) wie APOCALYPSE NOW und GROUNDHOG DAY, lassen sich jene Entwicklungsstufen erkennen. Je mehr ein Film als Klassiker angesehen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass man die beschriebenen Phasen vorfindet.

Interessanterweise geht es bei den Phasen der Figurenleiter ja um qualitative Fragen. Meines Wissens ein selten behandelter Aspekt. Denn selbst die Heldenreise beschreibt im Grunde eher eine quantitative Zunahme an Krise und Hindernissen und eine proportionale Zunahme an Erkenntnis und Kraft (in Bezug auf eine bestimmte Qualität) des Helden. Solche qualitativen Aspekte und thematischen Struktur- bzw. Handlungsebenen wie die einer Figurenleiter anzuschauen bzw. zu behaupten, kann man natürlich auch kontrovers diskutieren.

(Fachartikel von Marcus Patrick Rehberg erschienen im Online-Fachmagazin „WENDEPUNKT des Dramaturgenverbands VeDRA.)

Marcus Patrick Rehberg, M.A. Neuere deutsche Literatur und Medien, NF: Ethnologie und Grafik & Malerei, arbeitet u.a. als Autor, Dramaturg und Dozent für Drehbuchschreiben.